Anthroposophische Diaspora
«Platons ‹Idee› intendiert die Feier ihrer Auferstehung in Goethe. Die ‹Idee› Goethes sucht ihren Weltrang als Objektiv‐Wirkliches, indem sie als eins mit der Geist‐Person Goethes vorzustellen ist. Das Universalienproblem intendiert in Goethe die Lösung: der universelle Begriff oder die Idee sei insofern wirklich, als er Goethe selbst ist. Die Wirklichkeit der Urpflanze – das ist Goethe selbst. Das Wesen der Farbe, die entsteht aus der Begegnung der Dunkelkraft und der Lichtkraft Gottes – das ist Goethe selbst, als der Effekt aus Licht, Finsternis und Trübe in der Brust des großen ‹Urmenschen›. Es bestand also für Goethe nicht die traditionelle Philosophenaufgabe: Welt zu begreifen, sondern die andere: Welt zu sein. Die Welt intendierte Goethe als einen Weltfaktor, als einen Bestandteil der wirklichen Welt. Nicht Goethe, sondern die wirkliche Gott‐Welt verwahrte sich als Weimarer Physik gegen englische Physik. Sofern die ‹Wissenschaft› des Abendlandes aus griechisch‐lateinischen Begriffen der Mittelmeerreligion gezimmert ist (indem es da nach Jurisprudenz riechende «Gesetze» der Natur, etwa Gesetze der römischrechtlich‐darwinistischen ‹Vererbung› gibt, oder das juristisch‐theologische Sünden‐Kauf‐Geschäft zwischen dem Weltvater und dem ‹Erlöser›, oder den Ersten Beweger und den famosen Edelbegriff ‹Kausalität›) ist dieser ‹Wissenschaft› schlechterdings nicht zuzumuten, sie solle den Mann Goethe interessant finden. Goethe steht ganz außerhalb der Kapazitätsmöglichkeiten der europäischen ‹Wissenschaft›.»
Karl Ballmer in: «Ehrung»1
Karl Ballmer hilft, die Nebel zu lichten. Er bringt die Anthroposophie dort ins Gespräch, wo bedeutende Menschen um Erkenntnis ringen. Wir lesen und staunen. Kein Abbeten von Theosophie und Geheimwissenschaft, kein Rufen nach «Praxis» in Medizin und Landwirtschaft. Nein, praktische Pflege des reinen Gedankens. –
So, wie Universitätsphilosophen Plato, Descartes oder Hegel studieren, so studieren wir Rudolf Steiner und Karl Ballmer. So wie der Universitätsprofessor nicht die Ambitionen hat, ein Plato, Descartes oder Hegel zu werden, sondern sie studieren, kennen will und so an ihnen etwas wird, so können auch wir uns unserer Distanz zu Goethe und Rudolf Steiner, zu Ballmer bewusst werden und sie studierend auf uns wirken lassen.
So wie von Aristoteles Logik, von Hegel Dialektik gelernt werden kann, so kann von Goethe und Steiner Goetheanismus gelernt werden. Soll es künftig Menschen geben, die der Kultur und Menschheitsentwicklung Fruchtbares einpflanzen, so nur, wenn der Goetheanismus so zum selbstverständlichen Lebenselement der Menschen wird, wie es die Logik geworden ist. Das Verstandesdenken soll von Geistes‐Gegenwart abgelöst werden. Goethes Erkenntnisart führt da hin, und insofern ist sie zukünftig.
Ist dieses Verhältnis gesehen, so wird die nächste Frage sein: wo in aller Welt kann man das lernen? Als Anthroposoph möchte man sich doch spontan sagen: Wo sonst als in Dornach am Goetheanum! Wer sonst als die Hochschule (!) für Geisteswissenschaft (!) wäre berufen zu organisieren, dass der Goetheanismus Rudolf Steiners von Grund auf gelehrt und gelernt wird! Würde man nicht ein systematisches Studium erwarten dürfen? (Was immer Systematik im Fach Goetheanismus heißen kann – doch darüber würden die Verantwortlichen auf goetheanistische Art zu befinden haben).
Von der anthroposophischen Gesellschaft und Hochschule für Geisteswissenschaft aber wird die allergrösste Verwirrung über ihre eigenen Aufgaben und Kompetenzen gestiftet. In denkbarer Tiefe lotet Karl Ballmer den Ursprung dafür in seinem Aufsatz «Albert Steffen – ein Lehrer der Anthropospohie»2 aus. Wäre nicht Karl Ballmer aufgetreten, so fehlte uns noch heute der rote Faden für ein sich Orientierenkönnen in dem umfangreichen Werk Rudolf Steiners. Statt von Dornach kraft eines dort willkommen geheißenen Karl Ballmer von Anfang an auf das Wesentliche hinorientiert zu werden, mussten wir uns über Jahrzehnte, ohne dem Namen Karl Ballmer am Goetheanum auch nur begegnen zu können, durch den von Dorn‐ach! geschaffenen Dornenhag einer bunt gemischten Zusammenhanglosgikeit an anthroposophischen Bedeutsamkeiten schlagen, die das Wesentliche vor den Augen verbergen.
Es nimmt also nicht Wunder, wenn die Anthroposophische Bewegung eine anthroposophische Diaspora bildet. Wir lesen bei Karl Ballmer: «Die in der weiten Welt verstreuten Anthroposophen möchten gerne Vertrauen haben können in das Gebaren der Dornacher Verantwortlichen. Die von jeder anthroposophischen Gesellschaft unabhängigen Teilnehmer an der anthroposophischen Bewegung […], die Repräsentanten des unmittelbaren Bewegtseins durch Rudolf Steiner, sie würden mit Enthusiasmus in Dornach den Ort der Initiative und der Verantwortung sehen wollen, wenn ihnen das nicht unmöglich gemacht wird.»3 Das ist kein Aufruf, kein Wink mit dem Zaunpfahl, keine Klage, sondern einfach eine Diagnose, an der sich in den letzten 100 Jahren nichts geändert hat.
Jetzt, 100 Jahre später, ist nicht mehr die Zeit, unbegründete Hoffnungen zu hegen. Es bleibt nichts übrig, als mit der Krankheit zu leben und das Beste daraus zu machen: zu sehen, was krank und was gesund ist, um das Kranke durch Gesundes zu ersetzen, so gut es immer möglich ist.
Nach der Entscheidung folgt die Tat. Um der Anthroposophischen Bewegung ein pied‐à‐terre zu geben, wo sich Menschen zu gemeinsamer Arbeit finden können, die sich an des Geistes Weltgedanken orientieren wollen – oder fokussierter: wo die Ballmersche «Karmaorientierung der Erkenntnistheorie»4 zündend wirkt, soll nun das Institut Nadelöhr Winterthur gegründet werden. Mit Nadelöhr ist dasjenige gemeint, durch welches eher ein Kamel kommt als mancher Anthroposophie‐Namensbetrüger. Es wird in erster Linie der Goetheanismus Rudolf Steiners studiert und Goethes Erkenntnisart gelernt und gepflegt werden. Es will ein Ort sein, wo Geltung haben soll, was Karl Ballmer entdeckte: «Es gibt ein sicheres Mittel zur Beförderung der Verträglichkeit unter Anthroposophen: die Erkenntnis unserer gemeinsamen Nullität vor Rudolf Steiner.»5 – Das ist auch ein Nadelöhr – die notwendige Gesinnung, damit die geistige Welt nicht auf taube Ohren stößt.
Im Mittelpunkt steht das zentrale Werk Rudolf Steiners für den Goetheanismus, wo dieser explizit erarbeitet wird als Erkenntnistheorie und ‐methode: das Buch «Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» (GA 2). Goethes Erkenntnisart, in die sich Rudolf Steiner bei seiner Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften viele Jahre vertieft hat, wird in diesem Buch gleichzeitig analysiert und praktiziert. Goethe beobachtet sich darin posthum selbst als Erkennender. Rudolf Steiner arbeitet Goethes Erkenntnisart aus, die dieser spontan auf die Natur: Mineralien, Pflanzen, Tiere angewendet hat, zur Erkenntnis des eigentlich Menschlichen: des Denkens und Erkennens. Er erweitert Goethes Erkenntnisart von der Natur‐ zur Geisteswissenschaft.
Zuerst wird das Erkennen an sich analysiert, die Rolle des Menschen, des Denkens, der Wissenschaft in der und für die Welt untersucht und bestimmt, und schließlich wird gezeigt, wie das Gewonnene auf die unterschiedlichen Wissensgebiete nur entsprechend ihrer jeweiligen Eigenart angewandt werden kann. Die goetheanistische Geisteswissenschaft bereichert die unorganische Naturwissenschaft durch die Hinlenkung auf das Urphänomen, die Organik durch die Orientierung am Typus und die eigentlichen Geisteswissenschaften durch die Einführung des Allgemeinen in das Besondere: die einzelne menschliche Persönlichkeit.
Wäre schon der Typus eine Revolution für die Naturwissenschaften, indem er ihnen Erkenntnis des Lebendigen ermöglicht, so ist die eigentliche goetheanistische Geisteswissenschaft: das Erkennen der Bedeutung der menschlichen Persönlichkeit für die Welt, was unserer Zeit der über‐einen‐Kamm‐Geschorenheit der bunten Menschentiere braucht, um die Geringschätzung alles Menschlichen, einer der Kollateralschäden der Aufklärung, zu überwinden. Nämlich die Herabwürdigung des Menschlichen auf das «Allzumenschliche» und das allgegenwärtige «Es kann nicht sein, was nicht sein darf» gegenüber der Individualität, die Geist ausatmet. Bis in die Reihen der sich für Anthroposophen Haltenden selbst.
Die goetheanistische Erkenntnistheorie ist die Schwelle zur geistigen Welt. Es ist der Weg, auf dem der Erkennende vollbewusst und Schritt für Schritt über die Schwelle schreitet. Es gibt keinen sichereren Weg in die geistige Welt als durch Steiners Frühwerk. Das sagt er selbst in seiner «Geheimwissenschaft im Umriss»: «Es gibt aber noch einen andern, welcher sicherer und vor allem genauer, dafür aber auch für viele Menschen schwieriger ist. Er ist in meinen Büchern ‹Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung› und ‹Philosophie der Freiheit› dargestellt.» (GA 13, S. 343.) Ist dies klargestellt, so kann es auch nicht überraschen, dass Steiner von seinem theosophischen und anthroposophischen Werk später
sagt, dass es ganz in seinem Frühwerk wurzelt, dass dieses die Basis von allem späteren von ihm Geschaffenen ist. Steiner ist nie müde zu betonen, dass er kein Jenseits kennt – eine lapidare Formulierung seines Monismus. Wer Monist ist, kein Jenseits kennt, für den scheint es auch keinen Platz für einen Gott geben zu können, möchte man glauben. Doch: «Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott.» (GA 4, S. 250) Steiner ist kein Atheist, wie manche Leser seines Frühwerks meinen. Eher, um es mit Karl Ballmer zu sagen, ein A‐Theist, d. h. einer, der nicht Gott, sondern nur den theistischen Gott verneint.6
Gedenkt man auf der anderen Seite der Wissenschaft, wie sie heute gepflogen wird, deren Ergebnisse gewusst, aber nicht erkannt zu sein brauchen, mit anderen Worten, geglaubt werden müssen, so liegt es auf allen Händen, was Karl Ballmer in «Ehrung» (eingangs zitiert) schreibt: Es «ist dieser ‹Wissenschaft› schlechterdings nicht zuzumuten, sie solle den Mann Goethe interessant finden. Goethe steht ganz außerhalb der Kapazitätsmöglichkeiten der europäischen ‹Wissenschaft›».
Der Träger der Bewusstseinsseele, welcher einerseits Gott vom theistischen Gott zu unterscheiden vermag und andererseits die Wissenschaft als «das andere Papsttum» (Goethe) ansehen muss, steht ohne Goetheanismus vor dem Nichts. Um diese Unterscheidung treffen zu können, bedarf es aber schon einer goetheanistischen Anlage. Es bedarf der Ideenfähigkeit und eines Wirklichkeitssinnes. Beides kann durch das Studium Rudolf Steiners weiter ausgebildet werden. Was in der heutigen Zeit aber außer der oben bereits genannten Orientierung im Werk Rudolf Steiners fehlt, ist einem Jahrhundert der Kulturzerstörung geschuldet. Spätenstens die Nachkriegsgenerationen des zweiten Weltkrieges, wenn nicht schon die des ersten, konnten in ihrem Leben nicht mehr an die innerste Strömung der europäischen Kultur anknüpfen, die durch Goethe repräsentiert ist. Ein kulturfeindliches, kulturverfremdendes und ‐zerstörendes Element hat sich (nicht nur) in Europa breit gemacht, das heute schon global einen Höhepunkt zu erreichen scheint. Um Rudolf Steiner, den Goetheanismus, die Anthroposophie zu verstehen, um ihre Tragweite nicht nur zu fühlen, sondern auch in aller Klarheit zu erkennen, zu sehen, muss unserer Auffassung nach einem Studium
Rudolf Steiners eine Vorbereitung vorangehen, in welcher diese Anknüpfung nachgeholt wird, Philosophiegeschichte und Goethezeit in ihrem Großartigen, aber auch in ihren Schranken und Sackgassen erlebbar wird. Dann kann die Bedeutung Rudolf Steiners und seiner Geisteswissenschaft noch in ganz anderer Weise erlebt, geschätzt und vertreten werden.
Mit einem vierjährigen Studiengang wollen wir die Möglichkeit schaffen,
- wieder an die europäische Kultur anknüpfen zu können und die Kulturlücke des 20. Jahrhunderts zu überbrücken,
- den Goetheanismus Rudolf Steiners mit Hilfe erfahrener Dozenten und Kursleiter gründlich studieren,
- die Theosophie des Goetheanismus auf dem Boden des Frühwerks neu zu studieren und durch dies alles
- die Welt, insbesondere auch das Zeitgeschehen, goetheanistisch betrachten zu lernen.
Im Grunde deckt sich dieses Programm mindestens teilweise mit dem der Agora und wird sich in Zukunft noch mehr decken. Zufällig und aus anderem Grund entstand parallel zu dem Plan, ein Heft zum Thema Goetheanismus zusammenzustellen, der Impuls, ein Institut zu gründen, wo Goetheanismus studiert werden kann. So fügt sich nun beides ineinander. In diesem Heft wird denn auch das Thema Goetheanismus von einigen Autoren explizit behandelt und von anderen praktiziert. Besonders hinweisen möchte ich in dem Zusammenhang auf den Gastbeitrag von Jochen Fürst zum Zeitgeschehen. Die Beiträge von Karen Swassjan und Rüdiger Blankertz können gleichzeitig als Vor‐wurf für das geplante Studium gelesen werden. Auf der Agora‐Webseite werden in Bälde nähere Informationen dazu zu finden sein.
Ich möchte bei der Gelegenheit darauf hinweisen, dass diesem Heft ein Aufruf beigelegt ist zur Unterstützung eines neuen Buchprojektes von Karen Swassjan zum gegenwärtigen Zeitgeschehen. Wobei zu hoffen ist, dass nicht nur die finanzielle Seite das Erscheinen des Buches ermöglicht – ohne die es allerdings auch nicht geht –, sondern auch die Weltlage, das Weltgeschehen überhaupt, beziehungsweise eine rettende Portion an Besinnung und Rückkehr zur Vernunft bei dessen übergeschnappten Anführern.
Iris‐Astrid Seiler
- Karl Ballmer, Ehrung – des Philosophen Herman Schmalenbach, Edition LGC, 2006. S. 73.
- In «Anthroposophische Methodik», Edition LGC, 2009.
- Ebenda, S. 31.
- Ebenda, S. 54 ff.
- In: Briefwechsel über die motorischen Nerven, Edition LGC, erweiterte Neuauflage 2013, S. 27.
- Zum Gottesproblem bei Rudolf Steiner soll hier auf K. Swassjans «Philosophische Postskripta» (Edition Nadelöhr, Aarau 2019) verwiesen werden und auf ein breites Spektrum von Veröffentlichungen bei Karl Ballmer, z.B. den Aufsatz «Der A-Theismus» (vgl. Agora 5/6 2018) sowie «Die Überwindung des Theismus als Gegenwartsaufgabe» (Edition LGC, 1996) oder in «Rudolf Steiner – Blätter, Heft 1» der Brief an Dr. Leese (Verlag Fornasella).